Der Augenzeuge: Neue Kurzgeschichten

Michael Jackson und Napoleon

Es war einer der seltenen sonnigen Frühlingstage in Paris. Manoocher befand sich immer noch im Militärkrankenhaus Les Invalides in Paris, nachdem er in Ramallah von einem israelischen Scharfschützen angeschossen worden war. Zusammen mit ein paar anderen Kriegsinvaliden, alle im Rollstuhl, kam er ins Freie, um vor dem Invalidendom, wo Napoleon Bonaparte begraben liegt, die Sonne zu genießen. Für sie war es eine Gelegenheit, die Touristen zu beobachten, mal rauszukommen, eine Ablenkung. Wie immer hatte Manoocher seine Kamera dabei. Während er da saß und plauderte, konnte er von weitem eine seltsame Szene sehen: ein ganz in Rot gekleideter Mann mit einer chirurgischen Maske (kein üblicher Anblick zu jener Zeit), der zwei maskierte Kinder an den Händen hielt. Wie auch immer, Manoocher nahm seine Kamera, richtete sie auf den Mann und schaffte es, ein einziges Bild zu schießen, keine klare Aufnahme, aus der Ferne, bevor sich mehrere Männer in dunklen Anzügen auf ihn stürzten, ihn zurückhielten und ihn daran hinderten, weitere Fotos zu machen. Seine Begleiter, allesamt Kriegsveteranen, einer von ihnen ein ehemaliger französischer Geheimdienstler, der im Einsatz verwundet wurde, alle in Rollstühlen, kamen ihm zu Hilfe und begannen, die Männer, die ihn festhielten, wegzuschieben. Aber diese Bodyguards, denn das waren die Typen in den Anzügen offenbar, scherten sich einen Dreck um die Rollstühle und hielten sie alle mit Körpereinsatz in Schach. In der Zwischenzeit hatte Manoocher endlich begriffen, was los war und dass es sich bei dem maskierten Mann um Michael Jackson handelte, der mit seinen Kindern das Grab von Napoleon besuchte. Dessen Leibwächter hielten die Versehrten fest und behielten Manoochers Kamera, bis der Sänger vorüber war. Dann gingen sie. Erst im Nachhinein wurde den Veteranen klar, dass sie die Gelegenheit verpasst hatten, einen Tumult auszulösen und Michael Jackson dafür zu verklagen, dass seine Bodyguards hospitalisierte Invaliden in Rollstühlen angriffen …

Michael Jackson besucht den Invalidendom in Paris, 1997

Der Milchmann

Nach der Islamischen Revolution im Iran hatte das Informationsministerium seinen Namen in Ministerium für Islamische Führung geändert. Es war für die Ausstellung von Presseausweisen für Journalisten zuständig. In diesem Ministerium gab es ein Büro namens Abteilung für ausländische Medien, das Journalisten, die für internationale Presseagenturen arbeiteten, Ausweise ausstellte. Am Anfang war das kein Thema, sie gaben den Journalisten ihre Genehmigungen, ohne Probleme zu bereiten. Aber langsam, als die Fanatiker die Macht übernahmen, wurden die Dinge kompliziert. Die Abteilungsleiter wechselten und wurden durch Hardliner ersetzt. Ein Mann namens Ismaelzadeh, der wie Manoocher aus Aserbaidschan stammte und der kaum Farsi sprach, wurde der Verantwortliche für die internationalen Pressekorrespondenten. Ismaelzadeh hatte immer eine Pistole auf seinem Schreibtisch liegen, wenn Manoocher ihn aufsuchte, um seinen Presseausweis zu erneuern. Ismaelzadeh zeigte dann stets auf seine Pistole und sagte: „So behandeln wir unsere Feinde”. 

Eines Tages rief er Manoocher in sein Büro. Die Pistole auf dem Tisch, sagt er ungeniert: „Hör mal, du verdienst Dollars, und ich brauche Geld, um mein Haus zu renovieren. Du musst mir Geld geben.” 

„Nein”, antwortete Manoocher, „Du hast dein Gehalt und ich habe meins, warum sollte ich dir meins geben?” 

Ismaelzadeh schnappt sich seinen Presseausweis: „Das war’s. Du darfst nicht mehr arbeiten!” 

„Im Ernst? Das kannst du nicht tun!” 

Woraufhin Ismaelzadeh ausrief: „Das ist nicht der wahre Grund! Du erinnerst dich nicht an mich? Ich stamme aus Täbris, genau wie du. Erinnerst du dich an den Jungen, der jeden Morgen Milch in deine Nachbarschaft brachte? Ich habe auch deiner Familie Milch gebracht.” 

Manoocher erwiderte: „Nein, ich erinnere mich nicht, ich war noch klein, als wir in Täbris lebten. Aber du bist doch bestimmt für deine Arbeit bezahlt worden, oder?” 

„Ich bin jeden Morgen gekommen, auch an kalten Tagen, und ich habe es gehasst. Jetzt habe ich Macht und es ist Zeit für Rache!”

(Diese Art der Rache am iranischen Volk durch das Mullah-Regime dauert bis heute an.)


Der doppelte Arafat

1994, nach seiner Rückkehr nach Palästina, hielt Jassir Arafat eine Rede in einer Moschee in Gaza. Manoocher ging mit einigen anderen Fotografen dorthin und fotografierte Arafat während seiner Rede. Arafat beendete seine Rede, verließ die Moschee, stieg in sein Auto und fuhr weg, alles dokumentiert von der Presse. Als die Veranstaltung beendet war, kehrte Manoocher zu seinem eigenen Auto zurück, das er hinter der Moschee geparkt hatte. Plötzlich sah er, wie ein gepanzerter Wagen anrollte, am Hintereingang parkte, und schon wieder kam Arafat aus der Moschee heraus und ging zum Auto! Es musste ein Doppelgänger sein. Aber welcher von ihnen war der echte Arafat?


Rote Brigaden

In Nicaragua lernte Manoocher 1988 als AFP Fotodirektor in Mittelamerika über einen italienischen Fotografen eine Gruppe von Italienern kennen, die sich als Mitglieder der Roten Brigaden herausstellten, italienische Linksextremisten, die aus Italien nach Nicaragua geflohen waren, wo sie Teil der sandinistischen Armee geworden waren. Manoocher sah sie regelmäßig bei Veranstaltungen für die Presse, wo sie immer bewaffnet und in sandinistischen Uniformen erschienen. Da Manoocher italienisch sprach, wurde er zu einem Teller Pasta eingeladen. Jahre später kehrte Manoocher nach Nicaragua zurück, um eine Dokumentation über Straßenkinder in Managua zu drehen. Dort traf er einige der ehemaligen Paramilitärs wieder und fand heraus, dass sie alle durch das konfiszierte Land und den Reichtum, den die korrupte sandinistische Regierung unter Daniel Ortega ihnen zugeteilt hatte, zu Multimillionären geworden waren. Es war Manoochers erste Reise außerhalb Frankreichs mit seinem neu erworbenen französischen Pass, den ihm der französische Präsident Jacques Chirac gegeben hatte. Und es war auch der Abend des Endspiels der Fußball-Europameisterschaft. Die inzwischen sehr sesshaften italienischen Auswanderer luden Manoocher ein, das Spiel zu sehen. Warum eigentlich nicht? Ein Kontakt ist ein Kontakt ist ein Kontakt. Sie schauten das Spiel, tranken und aßen Antipasti. Ganz am Ende des Spiels (wie immer) schoss Frankreich das entscheidende Tor und Manoocher, frisch gebackener französischer Staatsbürger, sprang auf und rief laut „Tooor”! Dann schaute er sich um: ein Haufen ehemaliger Terroristen der Roten Brigade starrte ihn schweigend an. Schnell setzte er sich wieder hin. „Heute keine Pasta für Dich“ war ihr Kommentar.

Foto und handgeschriebener Kommentar von Paolo Basio

Nach dem 11. September

Gleich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nahm Manoocher den ersten Air France-Flieger nach New York, um die Folgen zu fotografieren. Er blieb ein paar Tage in der Stadt, aber es gab nicht viel, was er tun konnte. Die Menschen waren auf der Suche nach ihren vermissten Verwandten und Freunden. Ein chinesisches Unternehmen hatte damit begonnen, die Trümmer der Zwillingstürme zu beseitigen. Als er den Hinweisen auf die Milzbrandanschläge nachging, die noch im selben Monat per Post zugestellt wurden und die anscheinend aus Florida kamen, reiste er nach Miami. Manoocher blieb dort eine Zeit lang und arbeitete an ein paar Storys. In der Zwischenzeit setzte er sich mit seinem alten Freund Bill Gentile (Erinnert Ihr Euch an Panama?) in Verbindung, der inzwischen Professor für Fotojournalismus an der Kent State University war. Er lud Manoocher ein, zu einer Fotopräsentation und einem Vortrag zu kommen. Manoocher sagte zu und fuhr zum Flughafen von Miami, um einen Flug nach Ohio zu nehmen. Aufgrund der Situation gab es eine lange, lange Sicherheitsschlange, und mehrere Agenten kontrollierten und befragten sogar die Passagiere. Direkt vor ihm standen zwei Sicherheitsbeamte, die sich auf kubanischem Spanisch unterhielten. Er gab ihnen seinen französischen Reisepass. Einer der Beamten sah ihn sich an und las seinen Namen und Geburtsort. Mit weit aufgerissenen Augen wandte er sich an seinen Kollegen und sagte auf Spanisch (ohne zu wissen, dass er verstanden werden würde): “Wir haben ihn! Wir kassieren 10.000 Dollar!”. Er wandte sich an Manoocher und sagte: “Einen Moment!”, während er einen Knopf drückte. Plötzlich tauchten Dutzende von Polizisten aus Miami auf, in kurzen Hosen und mit Hunden, die Manoocher in Gewahrsam nahmen. Einer von ihnen öffnete dessen Tasche und fand seine Dias für die Universitätspräsentation über die iranische Revolution, mit Fotos von bewaffneten Mullahs, Menschen, die amerikanische Flaggen verbrennen usw. Sie hielten die Negative hoch und sahen sie sich an. “Ah, du bist ein echter Terrorist!” 

Manoocher fragte: “Darf ich ein Foto von euch machen, wie ihr die Bilder anschaut?” 

“Halt die Klappe und rühr dich nicht!”. Einer von ihnen rief seine Vorgesetzten an. Zehn Minuten später erschienen zwei Beamte in Zivil, sahen sich die Bilder an, tippten Manoochers Namen in ein für die damalige Zeit fortschrittliches Gerät ein und betrachteten das Ergebnis, das als Papierstreifen aus dem Gerät surrte. Der andere sah sich die Negative an und bemerkte: “Ah, dieses Bild kenne ich, es war vor ein paar Jahren auf einem Newsweek-Titel. Bist du der Fotograf?”

“Ja, das bin ich.” 

“Oh, tut uns leid, Sir, wir entschuldigen uns, diese Männer haben einen Fehler gemacht, jetzt wissen wir, wer Sie sind.”

Währenddessen wartete Bill Gentile am Flughafen auf Manoocher, machte sich Sorgen und rief die Polizei an. Schließlich schaffte er es mit 6 Stunden Verspätung nach Ohio, wo Manoocher seinen Vortrag hielt und Glenn Luther kennenlernte, einen Journalistikstudenten, der sein Assistent in Afghanistan werden sollte. 


Im wilden Nuristan

Im August 2002, ein Jahr nun war er schon in Kabul, entschied Manoocher, dass er mal aus der Stadt rausmüsse, hinaus in die Berge, in die Wildnis, am besten nach Nuristan. Die Region galt als besonders wild, ihre Bewohner als freiheitsliebend. Bis vor 100 Jahren hatten sie der Bekehrung zum Islam getrotzt, bis Kriege und Massaker sie dazu gezwungen hatten. Bis dahin wurde die Region von ihren Nachbarn Kafiristan genannt, Land der Ungläubigen; anschließend erhielt es den Namen Nuristan, Land des Lichts. Unter den Taliban waren ausgerechnet dieseunwegsamen Berge ein Rückzugsort für Al Qaida geworden, oft zum Leidwesen ihrer Bewohner. Manoocher fuhr mit fünf seiner Studenten los. Einer von ihnen, Kaveh, war aus dem benachbarten Panjshirtal, das sie als Ausgangsbasis benutzten. Sie fuhren bis ans Ende der Gebirgsstraße, so weit, wie man noch mit einem Fahrzeug kommen konnte. Von dort an reisten sie mit den beiden Bergführern und den Pferden, die Kaveh organisiert hatte. An einem frühen Morgen im August, Manoochers Geburtstag, brachen sie auf. Der Anfang war noch leicht zu bewältigen, dann aber wurden die Gebirgspfade so eng, dass man seinen Fuß nur vor, nicht mehr neben den anderen setzen konnte, unmittelbar daneben klaffte ein 1000m tiefer Abgrund. Immer wieder säumten tote Esel und Maultiere die Wege, von Landminen zerfetzt. Sie waren in vermintem Gelände! Hinauf und hinab ging es, den ganzen Tag, tagelang. Dabei entschädigten die spektakuläre Aussicht auf die hohen Berge des Hindukusch, dessen ebenso tiefen Täler, Flüsse und Wasserfälle sie ebenso wie die Tierwelt: Bergziegen, Mufflons, Murmeltiere und vieles mehr. In einer der eisigen Nächte, auf einem auch im August noch stellenweise mit Schnee bedecktem Hochplateau, übernachteten sie in dem steinernen Unterschlupf eines Hirten, der an sein Feuer zu einem Becher warmer Schafsmilch eingeladen hatte. Bei Sonnenaufgang brachen sie wieder auf und schlugen die Richtung ein, die der Hirte ihnen zum nächsten Dorf gewiesen hatte. Es war ein Fußmarsch von wenigen Stunden, bergauf, bergab, immer hinter den Pferden her, da neben ihnen kein Platz war, bis sie das Dorf erreichten. Auf dessen zentralen Platz sahen sie junge Männer posieren, in bestickte Mäntel gehüllt, geschminkt, mit Khol-geschwärzten Augen und rot gefärbten Lippen. Das, so erklärten sie ihnen, sei die Art und Weise, wie die jungen Männer in Nuristan traditionell auf Brautwerbung gehen. Die Mädchen kommen zum Dorfplatz, sehen sich die Kandidaten an und suchen sich den aus, der ihnen am besten gefällt. Die neuen Machthaber und die Islamisten, die sich in den Bergen verstecken, sehen dies mit großem Unmut. Und jenen Unmut sollten auch die Reisenden bald zu spüren bekommen. Im nächsten Dorf, in dem sie vom Dorfvorsteher, einem freundlichen und kultivierten Mann, eingeladen worden waren, erschien mit einem Mal eine Gruppe, die an Kleidung, Barttracht, Humorlosigkeit und mangelnder Gastfreundschaft gleich als Extremisten zu erkennen waren. In diesem Fall gehörten sie Al Qaida an. Sie fragten die Reisenden aus, beäugten sie mürrisch, verschwanden wieder. Als die kleine Gruppe sich am nächsten Morgen wieder zum Aufbruch bereit machte, fragte sie der Dorfvorsteher: „In welche Richtung geht Ihr?“

Sie sagten es ihm. „Aber warum?“

„Geht nicht in diese Richtung!“, drängte der Mann sie. „Die Männer von Al Qaida haben sich dort in den Hinterhalt gelegt, um Euch alle zu töten. Nehmt einen anderen Weg!“

Sie schlugen die gegenteilige Richtung ein und machten, dass sie davonkamen. Zwei Tage später waren sie wieder im Panjshirtal und saßen im Auto nach Kabul, ohne viele Fotos geschossen zu haben, aber um viele Erinnerungen reicher. 

Manoocher in der Hütte des Schäfers